Die ferngesteuerte Stipendiatin
Jan schreibt vielleicht: Dürfte ich Sie bitten, die meines Wissens schnellste Rolltreppe Europas an der Prager Metrostation Ceskomoravská für mich einmal entgegen der Fahrtrichtung hinaufzuhasten. Schnell! Bevor die EU sie austauschen lässt.
Ist gut, Jan. Also: Ich hüpfe aus der Linie B raus. Wenn ich erwischt werde, sage ich: Entschuldigung, es handelt sich um ein Kunstprojekt. Wenn mich die Polizei zum Literaturhaus bringt, sage ich nichts. Denn das wird ja gar nicht passieren. Das sind ja nur faule Ausflüchte! Ich weiß. Diese vermeindlichen Gedanken sind hektische, wirre, der Aufregung geschuldete Fehlschaltungen. Am Fuß des treppenfressenden Rollmauls kippen ein paar männliche Endjugendliche in Kapuzen hin und her. Ich also - wie diese sagen würden - einfach zwischen ihnen durch und zack auf die Treppe! Und zwar jetzt! Oder halt, zack verzögert sich noch kurz, weil oben neue, vernünftige und fahrtrichtungskonforme Leute zack auf die Treppe und so weiter. Da kommen sie. Da gehen sie. Da springen oben keine neuen Konformen mehr zack auf die Treppe, so dass nun für mich die Gelegenheit zackig vorfährt und zack erkenne ich: unmöglich zu schaffen, das. Ich sprinte auf der Stelle, mit neun Stundenkilometer treppaufwärts - immerhin. Ein hohläugiges Holzmännchen sagt erstaunt: Poklady Moravy. Grüßt mit abgetrenntem Arm vom grünen Plakat des Nationalmuseums. Hallo! Mensch Jan! Wahrscheinlich heißt du nicht mal Jan! Wahrscheinlich heißt du Jürgen, Wolfgang, Hitzekühl, Siegfried, Grußhelm, Adalbert - Adieu Hohlauge, zehn Stundenkilometer, da schaust du, was? - oder heißt du Quentin, Siegesmund, Eugen, Franz-Josef, Herwig oder: 'Karlin' schlägt das nächste Plakat vor. Ich darauf: Karl, Karlinchen, Karlowitz ... und renne mit gefühlten elf Stundenkilometer treppauf für eine Idiotie, für diese irre Idee, ToDo-Listen von Freunden, Feinden und völlig unbekannten Internet-Jans abzuarbeiten, in Prag, Wie konnte mir so was nur einfallen? Weshalb hatte ich nur darauf so unbändig Lust? Im November, ich mein: November! Aber guckt mal jetzt: Mit mindestens zwölf Stundenkilometer komm' ich oben an! Echt, ohne Fiktion jetzt! Wer würde das nicht gerne mal behaupten dürfen.
Susanne Berkenheger
1. November 2010
Blog des Prager Literaturhauses
Literaturhaus Bremen
zurück
|